Prolog
Bei einem gewöhnlichen Hochrasanztrauma, etwa bei einem Frontalzusammenstoß zweier Personenkraftwägen mit 100 km/h, wirken negativ beschleunigende Kräfte im menschlichen Körper auf verschiedene Weise. Bänder, Muskeln und Sehnen zerreißen, es zerbersten und zersplittern Knochen, Nervenstränge im zentralen Nervensystem werden irreversibel durchtrennt und nicht zuletzt werden lebensnotwendige innere Organe wie Herz, Hauptschlagader und Lunge schlichtweg durch- und abgerissen. Physikalisch anders jedoch verhält es sich in dem seltenen Fall, wenn die Gravitation zu einem entscheidenden Faktor wird, beispielsweise wenn eine Masse von 50 Tonnen von oben herab auf ein Wasserfahrzeug und deren Besatzung fällt.
21:45 An Deck der Mêlée
Ein markerschüttender Knall. War etwa der Großbaum übergeschlagen, wie damals auf der Etappe von Saint Martin auf die British Virgin Islands, als während eines nächtlichen Frontdurchzugs der Großbaum überschlug? Routiniert, wenn auch etwas verschlafen, vollzog sie die üblichen Kontrollblicke: Segel, Leinen, Ruder. Alles in bester Ordnung. Woher also dieser Lärm? Ein Rundumblick in den monderhellten Ozean, der sich um den Rumpf der kleinen Slup in schier endlose Weiten auszudehnen scheint, ließ der attraktiven Rudergängerin das Blut in den Adern gefrieren. Backbord, achteraus etwa 10 Bootslängen entfernt eine Wasserfontäne in der Ausdehnung mehrerer Lkws. Die Detonation eines Mörsers? Welchen Grund sollten diese verdammten Puertoricaner haben auf sie zu schießen? Die Stelle des Geschehens fest im Blick und unfähig, in ihrer Schockstarre auch nur einen Finger zu rühren, sah sie erstmals die Umrisse der Gestalt.
21:44 Unter Deck der Mêlée
Er konnte gerade noch ein schwaches Flackern wahrnehmen. Dann war es finster. Alle elektronischen Geräte, die überlebenswichtigen Instrumente und Lichter, die der Navigation durch diese fordernde Passage dienten, waren ausgefallen. Verdammt, murmelte der lumpig gekleidete Mittdreißiger. Unter seinem Bart und der ungezähmten Lockenmähne waren noch deutlich die Züge des stattlichen, jungen Mediziners zu erkennen, der noch vor weniger als einem Jahr eine angesehene Spitalsposition innehatte. Ob das Blackout wohl das gesamte Schiff betraf? Sofort war ihm klar, dass hier etwas nicht mit rechten Dingen zuging. Um sich eine erste Orientierung zu schaffen, blickte er aus dem Bullauge der Achterkabine und konnte das Bild nicht fassen, das sich ihm darbot. Obwohl sie mitten im offenen Nordatlantik unterwegs sein sollten, sah er in hohem Tempo Kirchen und alte Gemäuer vor seinen Augen vorbeiziehen. Was war da oben los? Kurz zweifelte er an seiner Entscheidung, sein Leben in die Hände einer Frau gelegt zu haben, die er erst seit 18 Jahren kannte. Sich schüttelnd wie die Schäferhündin Mira, nachdem sie einen Schneeball direkt aus der Luft gefangen hat, versuchte er den Gedanken aus seinem Kopf zu verdrängen. Keine Zeit für Zweifel, er musste sofort herausfinden, was da vor sich ging. Gerade in dem Moment, als er beinahe an Deck angekommen war, vernahm er einen durchdringenden Schrei von oben. Nein, kein Schrei, eher Gebrüll. Er riss die Augen auf und stellte erstaunt fest, dass er noch in seiner Kajüte lag. Beim Blick nach draußen bemerkte er, dass sie sich, wie zuvor während seiner Wache, umringt von monderhellten Wellen befanden. Der kurzen Woge der Erleichterung, schon wieder nur schlecht geträumt zu haben, folgte ein erneuter Adrenalinschub. Die gellenden Rufe von oben waren real und drangen eindringlich in sein Ohr. Was hatte seine Mitreisende in eine derartige Panik versetzt? Kurz nachdem er aus der zweckmäßig eingerichteten Kabine geklettert war, stieß er sich den Kopf am Durchgang zur Kombüse, wo noch das schmutzige Geschirr des Abendmahls lag. Das wäre wohl seine Aufgabe gewesen. Fluchend eilte er weiter den kurzen aber beschwerlichen Weg nach oben, den panischen Schreien entgegen.
21:46 Wieder an Deck der Mêlée
Auch wenn er rechtzeitig oben angekommen wäre, hätte er die dunkle Gestalt zu seiner rechten nicht wahrnehmen können. Zu sehr brummte ihm noch der Schädel vom zuvor erfolgen Zusammenstoß mit der Mahagonitäfelung. Das Sternenbild, das vor seinen Augen flimmerte, würde der Kunstliebhaber unter anderen Umständen sogar als anmutend empfinden, wäre es nicht begleitet von einem stechenden Schmerz im Bereich des Frontallappens. So konnte nur seine aufgelöste Begleiterin die Schwanzflosse des massiven Meeressäugers erkennen, der nur wenige Meter entfernt von ihrem Schiff, das ihr in diesem Kontext auf einmal wie geschrumpft vorkam, aus dem Wasser emporgesprungen war. Wal, Wal, Wal! konnte der Freizeitkapitän nun endlich das Geschrei entziffern, als er sich die Stirn rieb, wie Stunden zuvor noch den aromatischen Parmesan über eine Portion Spaghetti. Auch wenn er sich einbildete, an genau der Stelle, auf die seine langjährige Begleiterin zeigte, noch eine kleine Turbulenz im Wasser glitzern zu sehen, konnte er es dennoch nicht glauben. Ein Wal? Hier, mitten im Walschutzgebiet und ausgerechnet zur Walsaison? Unmöglich. Sie musste übermüdet sein. Hatte er ihr zu viel zugemutet? All die langen, einsamen Nächte durch Sturm und Regen können einem zarten Gemüt wie ihr ordentlich zusetzen. Sie wäre nicht die erste Seefahrerin, die aufgrund des Schlafentzuges unter Halluzinationen leidet. Was kommt als nächstes, etwa Meerjungfrauen?, grummelte er halblaut vor sich hin und begann einem Gedanken über diese mythischen Kreaturen nachzuhängen, als er durch das abschwellende Flimmern in seinen Augen und den starren Blick in die Ferne die massige dunkle Gestalt nun ebenfalls wahrnahm.
21:46 Immer noch an Deck der Mêlée
Es geschah wie in Zeitlupe: Zuerst brach der Kopf eines etwa 15 Meter großen Buckelwals durch die mondbeschienene Wasseroberfläche. Er stieg empor und empor, bis die Gravitation Überhand nahm und der Meeressäuger mit einem gewaltigen Knall bauchlinks auf dem dunklen Ozean aufschlug und aus dem Blickfeld seiner verstörten Beobachter verschwand. Dann folgte noch die Fontäne. Walbreit und hoch wie ein Leuchtturm spritzte das verdrängte Wasser gen Nachthimmel wie das Blut aus einer angestochenen Bauchschlagader. Noch mehrere Minuten starrten die Segler Richtung Horizont und begannen sich schließlich vorsichtig in Sicherheit zu wägen. Keiner der Beiden bemerkte, was inzwischen auf der elektronischen Seekarte ihres Bordcomputers unheilvoll zu blinken begonnen hatte.
Epilog
7.200 Minuten nach diesen traumatischen Eregnissen erreichten sie ihr Ziel: Die Bahamas. Hier wollten sie beginnen die Geschehnisse jener Nacht aufzuarbeiten, oder sie immerhin in Rumpunsch zu ertränken.







